Die Energiewende in Mitteldeutschland nimmt Fahrt auf: Der Fokus liegt zunehmend auf grünem Wasserstoff, einem Schlüsselbaustein für eine nachhaltige Energiezukunft. Dirk Sattur, technischer Geschäftsführer von MITNETZ GAS und MITNETZ STROM, erläutert die Fortschritte und Herausforderungen, die bei der Transformation des Energiesystems zu bewältigen sind.
Mitteldeutschland erlebt einen rasanten Ausbau erneuerbarer Energien. Über 11 Gigawatt Erzeugungskapazität aus Wind- und Solarenergie sind im Netzgebiet der MITNETZ STROM installiert, davon ein Großteil aus Fotovoltaik-Anlagen. Aber auch Windkraft wird auf hohem Niveau eingespeist. Mit anderen Worten: Ökostrom ist in Mitteldeutschland im Überfluss vorhanden.
Dennoch bleibt ein großer Teil dieses Potenzials ungenutzt, da oft mehr Strom erzeugt als nachgefragt wird. Insbesondere an sonnigen und windreichen Tagen muss überschüssiger Strom ins vorgelagerte Hochspannungsnetz zurückgespeist werden oder – falls das nicht möglich ist – in die Erzeugungsleistung von Kraftwerken eingegriffen werden, um das Stromnetz vor Überlastung zu schützen. Allein 2023 mussten rund 400 Gigawattstunden an erneuerbarem Strom abgeregelt werden, da die Netzkapazitäten überschritten wurden.
Grüner Wasserstoff könnte hier Abhilfe schaffen. Durch Elektrolyseure ließe sich überschüssiger Ökostrom effizient in Wasserstoff umwandeln, der speicherbar ist und vielfältig eingesetzt werden kann – sei es in der Industrie, Logistik oder Energieversorgung. Rückspeisungen oder Abregelungen bis hin zu Abschaltungen von Fotovoltaik- und Windkraftanlagen wären damit passé.
Deutschland hat sich ambitionierte Ziele gesetzt: Bis 2030 soll eine Elektrolysekapazität von zehn Gigawatt aufgebaut werden, um den Bedarf an grünem Wasserstoff zu decken. Derzeit besteht jedoch eine Lücke von 5,8 Gigawatt zu diesem Ziel.
Um diese Herausforderung anzugehen, setzen MITNETZ GAS und MITNETZ STROM auf ein umfassendes Konzept: Ein 75 Kilometer langes Wasserstoff-Inselnetz verbindet bereits erste Erzeuger und Verbraucher in der Region. Dazu gehören die regionalen Erzeuger Nobian, LEAG und envia THERM, die mit ihren Elektrolyseuren im Chemiepark Bitterfeld-Wolfen eine Gesamtkapazität von ungefähr 77 Megawatt (MW) bereitstellen können. Zusätzliche Elektrolyseure können an das Wasserstoffnetz der MITNETZ GAS angeschlossen werden, um noch mehr Industriekunden mit grünem Wasserstoff zu versorgen.
Ein weiteres Highlight ist der geplante Umbau eines ehemaligen Salzstocks in Bad Lauchstädt, der künftig als Wasserstoffspeicher dienen soll. Mit einem Speichervolumen von 3.800 Tonnen könnte er den Jahresstrombedarf von rund 40.000 Zwei-Personen-Haushalten decken.
Das Projekt „Green Bridge“ ist ein wichtiger Baustein in dieser Strategie. Hierbei arbeiten Unternehmen wie BMW, DHL und Porsche zusammen, um eine geschlossene Wasserstoff-Wertschöpfungskette zu schaffen. Grüner Wasserstoff wird nicht nur produziert, sondern auch direkt vor Ort von den Partnern genutzt.
Der Flughafen Leipzig-Halle möchte damit seine Nachhaltigkeitsstrategie umsetzen und Wasserstoff u. a. als Kraftstoff für seine Fahrzeuge nutzen. Bei DHL ist geplant, die Logistik wasserstoffbasiert zu gestalten, Total plant eine Wasserstoff-Tankstelle, Verbio will daraus Synthetic Fuels (grüne Kraftstoffe) produzieren und bei Porsche soll grüner Wasserstoff in einer Lackiererei zum Einsatz kommen. „BMW nutzt für die Intralogistik in seinem Werk bereits heute hunderte Fahrzeuge, die zu 100 Prozent mit Wasserstoff fahren, und hat dafür extra eine Pipeline durchs Werk verlegt“, so Sattur. So vielfältig wie die Industrie in der Region aufgestellt ist, so unterschiedlich sind auch die Verwendungszwecke des grünen Moleküls.
Wie ein reales Wasserstoffnetz in Zukunft aussehen könnte, erprobt MITNETZ GAS bereits seit einiger Zeit im sogenannten „Wasserstoffdorf“, einem Versuchsfeld, auf dem die gesamte Wasserstoff-Wertschöpfungskette unter realen Bedingungen getestet wird. Seit 2016 wurden dort zahlreiche innovative Techniken wie hochdichte Kunststoffrohre und neue Verlegeverfahren erprobt. Ziel ist es, praktische Erkenntnisse zu gewinnen, die die Umstellung bestehender Gasnetze auf Wasserstoff erleichtern.
Das aktuelle Forschungsprojekt „H2-Infra“ untersucht die Nutzung von Wasserstoff im Wärmebereich für Haushalte. Erste Ergebnisse zeigen, dass viele bestehende Gasnetze bereits für Wasserstoff geeignet sind, lediglich die Messtechnik muss angepasst werden.
Dank der Realbedingungen sammelt MITNETZ GAS vielfältige praxisbezogene Erfahrungswerte bei Transport, Verteilung und Anwendung von Wasserstoff, die wissenschaftlich bewertet und weiterentwickelt werden. „So schaffen wir das Wissen und die Grundlagen, die für die Umstellung der bestehenden Gasinfrastruktur auf Wasserstoff dringend nötig sind“, erläutert Sattur.
Mitteldeutschland bietet ideale Bedingungen für die Entwicklung einer Wasserstoffwirtschaft: eine starke Basis an erneuerbaren Energien, bestehende industrielle Strukturen und innovative Pilotprojekte. Doch es bleibt viel zu tun. Die Integration von Strom- und Gasnetzen, der Ausbau von Elektrolysekapazitäten und die Schaffung einer verlässlichen Infrastruktur stehen im Fokus der kommenden Jahre.
Dirk Sattur fasst die Vision zusammen: „Wir müssen den Brückenschlag zwischen unserem Elektronen- und Gassystem schaffen, um die Energiewende in Mitteldeutschland schnellstmöglich umzusetzen.“ Sollte dies gelingen, könnte Mitteldeutschland eine Vorreiterrolle in der deutschen Energiewende einnehmen und den Weg in eine nachhaltige Zukunft weisen.
Dieser Beitrag basiert auf einem Fachbeitrag der MITNETZ GAS, der im September 2024 in der Fachzeitschrift DVGW energie | wasser-praxis erschienen ist.
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